MXDEMTNS
DIE KUNST DES SEHENS IST NICHT ZU HABEN OHNE EINE KUNST DER BLINDHEIT. ALLZUVIELE FORMEN DES NICHTSEHENS BEGEGNEN UNS IM MEDIUM SICHTBARKEIT - DEM BILD - SCHLECHTHIN.
NIEMAND HAT SICH VORHER DEN PARADOXIEN DES SEHENS ENTSCHLOSSENER VERHALTEN ALS DIE RADIKALE MODERNE
DES 20. JAHRHUNDERTS. MAN DENKE, WAS EIN MARCEL DUCHAMP ZUR SICHTBARKEIT VON KUNST GESAGT
HATTE. ER ERKLÄRTE, DASS IHM SEIT 1912 KLAR WURDE, DASS ER „AN ANDERE DINGE ZU DENKEN HAT, ALS AN EINE
NETZHAUT - MALEREI“.
SEIT COURBET MEINT MAN, DIE BILDENDE KUNST WENDE SICH AUSSCHLIESLICH AN DAS AUGE - EIN ALLGEMEINER
IRRTUM. MARCEL DUCHAMP, IN EINEM GESPRÄCH MIT PIERRE CABANNE SAGTE DAZU: „DER OPTISCHE SCHAUDER!
VORHER HATTE DIE KUNST AUCH ANDERE FUNKTIONEN, SIE WAR RELIGIÖS, PHILOSOPHISCH ODER MORALISCH
AUSGERICHTET. ICH SELBST HABE ZWAR GLÜCKLICHERWEISE ZU DIESER ANTI-NETZHAUT-POSITION GEFUNDEN,
ABER VIEL GEÄNDERT HAT SICH DADURCH NICHT: UNSER GESAMTES JAHRHUNDERT IST DEM OPTISCHEN VERFALLEN.“
DER LETZTE SATZ HAT SICH IN SO EINEM AUSMASS BEWAHRHEITET, WIE DUCHAMP ES SICHER NICHT AHNEN KONNTE,
ALS ER IHN AUSSPRACH. DENN DIE MEDIENTECHNISCHEN VISUALISIERUNGSMÖGLICHKEITEN UND TECHNIKEN,
DIE SEITDEM ENTWICKELT WURDEN, HABEN DEN OPTISCHEN SCHAUDER OHNE ZWEIFEL NOCH VERSTÄRKT.
DENKEN WIR ZURÜCK AN DEMOKRIT - DER SICH DIE AUGEN AUSSTACH, UM EINSICHT ZU GEWINNEN. ODER IN NÄHERER
VERGANGENHEIT, AN TIMM URLICH, DER IN EINEM SELBSTPORTRAIT, DRAPIERT ALS BLINDER, MIT DEM SCHRIFTBILD:
„ICH KANN KEINE KUNST MEHR SEHEN.“ VOR DIE KAMERA TRAT. SEGSCHNEIDERS „MXD E MTNS“ SETZE ICH
DAZU.
VISUALISIERUNG IST DAS GEGENTEIL VON SINNLICHER GEWISSHEIT. AN DIESEM WIDERSPRUCH BAUT BJØRN SEGSCHNEIDER
SEINE KUNSTWERKE AUF. HIER, IN DEN SCHAUFENSTERN DES MEDIENKUNSTLABORS BEKOMMT SEIN
AMBIVALENTES VERHÄLTNIS ZUR NETZHAUT EINEN NAMEN. DURCH DAS WORTPAAR: LOVE UND HATE - LIEBE UND
HASS BEGINNT DAS SPIEL.
WAS IST EIGENTLICH DIESES WERK? EINE LEUCHTSCHRIFTREKLAME, DIE NICHT-ÄSTHETIK EINES VERGNÜGUNGSPARKS
NACHMACHT? GEHÖRT ES ZUM UNTERHALTUNGSKITSCH? IST DAS DIE KUNST UNTER SPANNUNG, ODER DIE
KUNST UNTER STROM?
ICH WÜRDE DIESE INSTALLATION ZUR ANTI-KUNST ZÄHLEN. ANTI KUNST NEIGT IMMER WIEDER DAZU, INS AUGE ZU
GEHEN, UND ZWAR IM MARTIALISCHEN SINNE: ALS SEINE ZERSTÖRUNG. DENKEN WIR AN LUIS BRUNELS FILM „UN
CHIEN ANDALOU“ AUS DEM JAHR 1928. WER JE DIESEN FILM GESEHEN HAT, ERINNERT SICH BESTIMMT AN DIE SZENE,
IN WELCHER DIE RASIERKLINGE DURCH EINEN AUGAPFEL SCHNEIDET.
DAS PFLÜCKEN DES AUGAPFELS VOM BAUM DER ERKENNTNIS - DAS IST DIE GEWOLLTE SÜNDE DER ANTIKUNST.
SO AUCH IN SEGSCHNEIDERS WERK „MXD E MTNS“. EINE EINFACHE TAKTUNG BASIEREND AUF DEM FUNDAMENT
DER INSTALLATION. WÖRTER WIE „LOVE“ UND „HATE“ BLITZEN KURZ IN VERSCHIEDENEN ABSTÄNDEN AUF UND ES
ZEICHNET SICH DIE SCHNITTMENGE AUS VERSCHIEDENEN GEFÜHLEN AN DER OBERFLÄCHE AB.
DIE INSTALLATION IRRITIERT DEN BETRACHTER. VIER BUCHSTABEN DURCH DIE FASSADE GETRENNT, JEDER BUCHSTABE
IST FÜR SICH. DIE BUCHSTABEN HABEN ALLE DIE GLEICHE FARBE, DIE NICHTFARBE-WEISS. NACH EINEM VOM
KÜNSTLER VORGEGEBENEN RHYTHMUS, DER ABER NACH UNREGELMÄSSIGKEIT SCHAUT, LEUCHTEN ALLE BUCHSTABEN
GLEICHZEITIG, ABER IN SO EINER BLITZKURZEN DAUER, DASS MAN SICH NICHT SICHER IST, OB DA ETWAS
ZU LESEN, ZU VERSTEHEN IST, ODER NICHT.
ZWEI WÖRTER WECHSELN SICH IN EINEM STROBOSKOPISCHEN RHYTHMUS DAUERND AB: „LOVE“ UND HATE“. DANN
FOLGEN NOCH WEITERE: HOPE, LIKE, SAFE... LÄNGER GELESEN WERDEN SIE ZUM ALBTRAUM DER EIGENEN INNERLICHKEIT.
AM ANFANG WERDEN LIEBE UND HASS BEI DIREKTER BETRACHTUNG DURCH DAS FLASHEN IN DIE NETZHAUT EINGEBRANNT.
SO TRÄGT MAN FÜR EINEN GEWISSEN ZEITRAUM DIESE BEGRIFFE MIT SICH. MIT GESCHLOSSENEN AUGEN
SIND SIE WEITERHIN VOLLSTÄNDIG LESBAR. DIE BEGRIFFE STEHEN FÜR ZWEI GRUNDGEFÜHLE, DIE BEI JEDEM
IN IRGENDEINER FORM PRÄSENT SIND, ABER EIGENTLICH IN DER WAHRNEHMUNG EINEN STÖRENDEN EFFEKT HABEN,
DER NUR LANGSAM WIEDER VERGEHT.
WAS WIR IN DER INSTALLATION IN DEN FENSTERN DES MEDIENKUNSTLABORS FINDEN, IST KEINESFALLS DIE BOSHAFTE
DESTRUKTIVITÄT, SONDERN EHER EIN ÜBERRASCHENDES GEFÜHL FÜR GEBRECHLICHE. SEGSCHNEIDER VERSUCHT
ZU ZEIGEN, DASS DIE BLITZATTACKE DES WEISSEN LICHTES, SICH NICHT GEGEN NETZHAUT UND AUGE RICHTEN,
-GEGEN SICHTBARKEIT; SONDERN DER KÜNSTLER GEHT MIT DEM LICHT AN DIE GRENZE DES MEDIUMS SELBST,
UND VERSUCHT DADURCH BEREICHE ZU ERSCHLIESSEN, DIE ANDERS KAUM ZU AHNEN WÄREN. AUCH DIE GRENZE
ZWISCHEN ZWEI „URGEFÜHLEN“: LIEBE UND HASS SIND HIER AUFGEHOBEN. WAS MACHT UNS BLIND? DAS LICHT?
FÜR WAS SIND WIR BLIND? FÜR DIE LIEBE ODER HASS, ODER HOFFNUNG UND HERZ? ODER MACHEN UNS DIESE GEFÜHLE
MANCHMAL BLIND?
ES GIBTEIN ALTES KINDERSPIEL MIT DEM NAMEN: „ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST“. DIESES WORTRÄTSEL HAT
EINEN BESONDEREN SINN, GERADE ZU EINER ZEIT, IN DER DAS UNSICHTBARE HERRSCHT. WER HAT ZUGANG UNTERHALB
DER BENUTZEROBERFLÄCHE EINES COMPUTERS, IN DIE BINÄR CODIERTE QUELLDATEIEN ZU SCHAUEN?
TECHNISCHE WAHRNEHMUNGSMITTEL ERGEBEN DURCHAUS EINE SICHTBARKEIT ZWEITER ART, DIE MAN IHRERSEITS
SEHEN KANN. DOCH DAS EIGENTLICH GEMEINTE SIEHT MAN NIEMALS AN SICH SELBST. ES IST UNSICHTBARER
ALS EIN GESPENST UND MINDESTENS SO MÄCHTIG. IMMER MEHR AKTIONEN RICHTEN SICH NICHT MEHR NACH DIREKTEN
WAHRNEHMUNGEN, SONDERN NACH INSTRUMENTENANZEIGEN VON DINGEN, DIE MAN NICHT SIEHT. DIE
BILDENDE KÜNSTE KOMMEN DARAN AUCH NICHT GANZ VORBEI. BESONDERS DIE MEDIENKÜNSTE FÜHREN DIESE
AUSEINANDERSETZUNG. DENN DAS GANZE KULTURELL TRADIERTE GEFÜGE DES SICHTBAREN UND UNSICHTBAREN
HAT SICH RADIKAL VERSCHOBEN.
DAS LATEINISCHE WORT FÜR „ICH SEHE“ BEGEGNET UNS AN JEDER STRASSENECKE: „VIDEO“. ICH SEHE WAS. FRAGT
SICH NUR: WAS? SEGSCHNEIDERS ANTWORT LAUTET: WAS DU NICHT SIEHST!
TEXT: MIRJANA PEITLER | MEDIENKUNSTLABOR GRAZ 2008